Kantiger Mut

„Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ schrieb einst Immanuel Kant.

Menschen sind gerne sicher, sind gerne abgesichert. Um diese Absicherung und Sicherheit zu erreichen, ist Nachfragen ein probates Mittel. Wer fragt, ob sie etwas machen darf, sichert sich ab und kann dann, im Falle eines Falles sagen „ich habe doch gefragt“. Verantwortung abgeben.

Fragen bringt aber auch ein bestimmtes, großes Risiko mit sich: die Antwort könnte nicht die sein, die man hören möchte.

Wer zu seiner Vorgesetzten geht und dort fragt, ob er während der Mittagspause auch nach Hause darf, muss damit rechnen, dass die Vorgesetzte, verwundert über diese Frage, ein Verbot ausspricht, wo vorher womöglich keines existiert hat.

Abgesehen davon, dass nun also ein neues Gesetz existiert, ist der Chef auf diese Möglichkeit aufmerksam geworden und könnte Maßnahmen ergreifen, um Übertretungen festzustellen.

Müßig zu sagen, dass nun natürlich oft der kindische Widerstand beginnt, in dem die fragende Person, die sich ja bloß absichern wollte, auf ihre Freiheit pocht und sagt, sie sei ein erwachsener Mensch, den man nicht einsperren kann. Das nur ein Beispiel.

Das schlimmste an der Nutzung des eigenen Verstandes ist, dass man Verantwortung für die Folgen übernehmen muss.

Stehe ich am Rand einer Straße, die ich gedenke zu überqueren, an der weit und breit kein Auto zu sehen ist, und gehe trotz der roten Fußgängerampel, die mich ganz klar zum Stehenbleiben auffordert, einfach über die Straße, muss ich, falls doch ein Auto aus dem Hyperraum erscheint und mich gerade dann platt fährt, die Verantwortung dafür übernehmen und kann nicht sagen, ich hätte mich an die Regeln gehalten. Das aus dem Hyperraum erscheinende Auto kann nicht belangt werden.

In einem meiner früheren Posts habe ich gesagt, dass Intelligentsein anstrengend ist. Nicht nur, weil man selbst viel denkt, sondern weil man auch für andere mitdenken muss.

Der Straßenverkehr ist hierfür tatsächlich ein ausgezeichnetes Beispiel. Hier ist es zwangsläufig notwendig für alle Verkehrsteilnehmer, die sich um mich herum auf der Straße befinden, mitzudenken. Immer überlegen, wie sich der andere wohl jetzt im schlimmsten Fall verhalten könnte. Vorausschauend. Ist anstrengend, muss aber sein.

Selbst nachdenken heißt, sich darüber Gedanken zu machen, was situationsabhängig für sich selbst und die Mitmenschen vernünftig ist und sich nicht sklavisch an allgemeines Regelwerk zu halten, was andere definiert haben, um sich möglichst, jedoch unmöglich gegen alle möglichen Fälle abzusichern.

Der fiktive Charakter Dr. House hat in einer Folge der Serie folgenden Satz gesagt: “Rules are guidelines for morons who can’t make up their own minds!”

Ich liebe diesen Satz. Auch wenn er ihm in dieser Szene natürlich dazu dient, seinen Kopf durchzusetzen, gibt er doch wunderbar das wider, was Paragraphen- und Prinzipienreiter sind und nimmt religiöse Menschen mit, die sich ebenso gerne sklavisch an das halten, was geschrieben steht, weil sie dem Allgemeingültigkeit zusprechen.

Nun ist es selbstverständlich nicht leicht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und es bedarf einiges an Übung und Erfahrung. Darum heißt der wunderbare Satz des Herrn Kant auch nicht einfach im Imperativ „bediene dich deines eigenen Verstandes!“, sondern „habe den Mut (…)“, was ein signifikanter Unterschied ist, der anerkennt, dass es Überwindung und Mut kostet. Er erkennt an, dass es leichter ist, sich an bereits gedachten Dingen und Regeln zu orientieren und auf Nummer sicher zu gehen, statt das Risiko einzugehen, Verantwortung zu übernehmen.

Es ist eine Ermutigung zur Emanzipation. Vielleicht hätte das Zeitalter der Aufklärung besser „Emanzipation“ geheißen. Allerdings stellt sich darauf die Frage, was die Frauenbewegung dann für einen Begriff gewählt hätte. Aber das überlasse ich den Science Fiction-Autoren.

Die Frage, die ich mir in so vielen Situationen stelle, lautet, ob ich wirklich jemanden brauche, der mir in so vielen Dingen alles vorkaut oder ob nicht einfach ein gesundes Maß an Bildung und Verstand hier ausreichen.

Und damit habe ich mir schon meine eigene Antwort gegeben, weil ich nicht von jedem Menschen erwarten kann, dass er oder sie so viel Bildung oder Verstand aufbringt. Allerdings kann ich, und reihe mich hier ganz unbescheiden neben den Herrn Kant, zum Mut auffordern.

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